© Otto Hanus
Kunsttherapie Fragen und Antworten
Was ist Kunsttherapie?
Kunsttherapie ist zunächst nur ein Wort, in dem zwei anspruchsvolle Begriffe in einem Begriff zusammenge-fasst sind, nämlich Kunst und Therapie. Kunsttherapie ist deshalb die wenig glückliche Bezeichnung für eine Tätigkeit, in der künstlerische und therapeutische Ideen zusammengebracht werden. Jedenfalls suggeriert dieser Begriff den Anspruch eines Berufsbildes, dessen vage angedeutete Konturen ein vieldeutiges Bild ergeben, das keineswegs frei von irrationalen Projektionen ist. Es ist naheliegend, dass sich weit gefasste Ideale helfen zu können, auf bildnerische Ausdrucksformen übertragen lassen, sodass man sich der Illusion hingeben kann, der «Heilkunst» nahe zu sein.
Seitdem ich 1978 in München, die Kunsttherapie im Rahmen eines privaten Instituts (Forum für Analytische und klinische Kunsttherapie, GbR) zusammen mit einem Kollegen (Gerlach Bommersheim) und einer Kollegin (Barbara Bölke) als eine strukturierte und Konzept bezogene Ausbildung angeboten habe, ist die Kunstthera-pie inzwischen zu einem Beruf für diejenigen geworden, die ihre eigenen künstlerischen Interessen mit dem Anliegen verbinden wollen, anderen Menschen zu helfen. Akademien und Fachhochschulen haben alsbald die Gunst der Stunde erkannt und damals eine Ausbildung zusammengeschustert, um Künstlerinnen und Künstlern eine berufliche Alternative zur Kunst anzubieten.
Kunsttherapeutinnen, in der Mehrzahl sind es nämlich Frauen, arbeiten in allen möglichen klinischen, sozia-len und therapeutischen Einrichtungen oder sie bieten ihre Tätigkeit freiberuflich an. Psychiatrie, Psychoso-matik, Rehabilitation, aber auch Coaching, Beratung, Erwachsenenbildung, sowie Kinder- und Jugendarbeit sind Arbeitsfelder, in denen Kunsttherapeutinnen tätig sind. Wer freiberuflich therapeutisch arbeiten möchte, bedarf dazu einer Heilbefugnis; wer in einer klinischen Institution arbeitet, benötigt diese Heilbefug-nis nicht. Ohne den Anspruch, therapeutisch tätig sein zu wollen, kann die Kunsttherapie in verschiedenen psychosozialen Kontexten beratend, fördernd, unterstützend, klärend, problemlösend und Ressourcen opti-mierend angewendet werden. Was diese freiberuflichen Möglichkeiten anbelangt, fällt mir dazu ein Zitat der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach ein, die gesagt hat: Für das Können gibt es nur einen Beweis: das Tun!
Woher kommt die Kunsttherapie?
Woher kommt etwas? Kunsttherapie kommt von Menschen, die eine dementsprechende Idee gehabt haben. Da wäre etwa die in New York geborene Margaret Naumburg zu benennen. Sie war überzeugt, dass es mithilfe der Kunst möglich ist, psychisch kranken Menschen zu helfen, indem man sie dabei unterstützt, sich im Zeichnen und Malen emotional auszudrücken. Neben ihren vielfältigen Interessen und Studien war das Den-ken von Naumburg durch die Schriften von Sigmund Freud und C. G. Jung beeinflusst. Immer wieder hat sie darauf hingewiesen, wie wichtig Kreativität und Intuition, das Nonverbale und das Unbewusste sind. Ge-meinsam mit ihrer Schwester Florence Cain haben beide in den U. S. A., ab ca. 1930, Ansätze zu einer Kunst des Ausdrucks in der Psychiatrie entwickelt. Diese Idee, Kunsttherapie als einen emotionalen Ausdruck zu verstehen und in den gegenständlichen Bildern eine Symbolik und Metaphorik zu sehen und zu deuten, prägt im Wesentlichen bis heute das Verständnis von Kunsttherapie. Kritisch betrachtet bleibt dabei der Aspekt der Kunst auf ein vereinfachtes Darstellen gegenständlicher Inhalte und auf das Interpretieren, deren Bedeutung beschränkt, wie diese Beispiele zeigen (Bilder 1 bis 3).
Aber nicht alles, was kunsttherapeutisch innovativ ist, kommt aus Amerika. In Deutschland hat Dr. Maria Hippius mit ihrer Doktorarbeit im Jahr 1932 zum Thema der graphische Ausdruck von Gefühlen einen eigen-ständigen und anderen Ansatz zum Verständnis von Kunsttherapie entwickelt, der allerdings in der deut-schen Kunsttherapieszene bis heute keine Beachtung gefunden hat. Das mag unter anderem der Tatsache geschuldet sein, dass sie eine innovative intuitive Therapeutin mit einer wenig überzeugenden Theorie ge-wesen ist. Ihr kunsttherapeutischer Ansatz (der eine graphotherapeutische Methode war) unterscheidet sich vom inzwischen etablierten Verständnis von Kunsttherapie, weil Dr. Hippius über spezielle Formen des Aus-druckshandelns durch vorgegebene, vom Schreibverhalten abgeleiteter psychomotorischer Bewegungsmus-ter, einen gestaltenden Einfluss auf den seelisch geistigen Zustandsraum ihrer Klientinnen und Klienten angeregt hat. Als ehemaliger therapeutischer Mitarbeiter von Dr. Hippius (1968 bis 1975) habe ich diesen An-satz aufgrund eigenen Erfahrungen und Studien zum gegenstandsfreien Ausdruck, im philosophischen Kon-text des Suprematistischen Manifests von Kasimir Malewitsch zu einer kognitiven Kunsttherapie weiterent-wickelt und diese Methode am Forum für Analytische und klinische Kunsttherapie, von 1978 bis 2020 in München, unterrichtet.
Kann man mit Kunsttherapie etwas für die Gesundheit tun?
Das hängt damit zusammen, was man unter Gesundheit versteht. Die Welt-Gesundheits-Organisation hat 1946, Folgendes definiert: Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen physischen, psychischen und sozia-len Wohlbefindens und nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen. Bei dieser Definition fällt auf, dass Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit verstanden wird, sondern als ein vollständiger Zustand des Wohlbefindens. Dabei drängt sich mir jedoch die Frage auf, ob man sich jemals in einem vollstän-digen Zustand des Wohlbefindens befinden kann. Der Gynäkologe und Psychoanalytiker Dr. Jakob Derbolows-ky meint: Der erste Schritt zur Gesundheit ist die Besinnung. Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dem Hin-weis, dass man Besinnung nicht studieren und auch wissenschaftlich nicht begründen kann. Wie Kunst keine Wissenschaft, sondern subjektive Erfahrung und in dieser Subjektivität objektiv ist, so ist auch die Kunstthe-rapie keine Wissenschaft, sondern ein Weg zur Besinnung mithilfe von Bildern.
Wie wirkt die Kunsttherapie?
Bei manchen Menschen wirkt sie, bei anderen kaum oder gar nicht. Wenn sie wirkt, dann wirkt sie über das Geistige im Menschen. Welche andere Wirkung könnte ein Bild haben, wenn nicht eine geistige? Materiell wirkt ein Bild sicherlich nicht. Deshalb vergleiche ich Kunsttherapie manchmal mit Homöopathie. Was beide miteinander verbindet oder zu verbinden scheint, ist der geistige Aspekt im Leben des Menschen. Schließt man die geistige Dimension aus, macht Kunsttherapie ebenso wenig Sinn wie die Homöopathie. Erfahrungen zeigen, dass eine ansatzweise therapeutische Wirkung durch das Malen von Bildern erst dann und dadurch zustande kommt, wenn über das Bild und dessen Bedeutung geredet wird. Das vom Patienten geschaffene Bild, ist also der Auslöser für ein Gespräch darüber, was im Bild dargestellt wurde, wie es wirkt und was es bedeuten könnte.
Meinen Erfahrungen zufolge gibt es, vereinfacht gesagt, zwei kunsttherapeutische Ansätze. Man beschränkt sich auf das Malen und einen damit verbundenen Ausdruck von Gefühlen. Kunsttherapeutinnen, die diesen Ansatz vertreten, animieren die Patienten dazu, mit Farben ihre Gefühle auszudrücken und vertrauen dabei auf eine emotional befreiende Wirkung. Oder die gemalten Bilder werden mit einem therapeutischen Ge-spräch verbunden. Dann ist man darum bemüht, im Bild unbewusste Botschaften zu erkennen, die helfen könnten, ein Symptom zu verstehen. Unterstellt man der Kunsttherapie eine Wirkung, kommt sie weniger über das Malen von Bildern, sondern über empathische Gespräche zustande, bei denen das Bild eine animie-rende Funktion hat. Andererseits kann der Aspekt des Ausdrucks, über den Ausdruck hinaus, einen thera-peutischen Effekt haben, wenn man den Klienten an der Gestalt seines Ausdrucks arbeiten lässt.
Was sind die Methoden der Kunsttherapie?
Das hängt davon ab, was man unter einer Methode versteht. Wenn man ganz allgemein, die Wirkung irgend-einer Ursache als Methode bezeichnet, dann ist die Kunsttherapie sicher eine Methode. Man könnte jedoch auch fragen: Ist es eine Methode, wenn man mit jemandem redet? Vielleicht ist alles, was man tut, eine Me-thode, ohne dass man es weiß?
Die einfachste Methode einer Kunsttherapie würde es sein, dem Klienten oder Patienten eine Bildaufgabe zu geben, ihn das Bild zeichnen oder malen lassen und dann mit ihm über das Bild zu reden. Die Bildaufgabe wäre dann die Ursache dafür, dass ein Bild gemalt wird, und die Wirkung dieses Bildes wäre wiederum die Ursache für ein Gespräch über das Bild. Und wenn man Glück hat, dann war dieses Gespräch, im Kontext des Bildes, die Ursache für den Anstoß einer Änderung im Selbsterleben des Klienten.
Kunsttherapie ist eine Form von Sprache. Genauer gesagt, von Bildsprache. Wenn von Sprache die Rede ist, denken die meisten an das gesprochene Wort. Ersetzt man das Wort Sprache durch Mitteilung, dann erkennt man, dass man sich auch ohne Worte mitteilen kann. Singen, Tanzen, Gesten, Riechen, Sehen - auch das sind Mitteilungen, an denen man sich unbewusst orientiert. Tiere aller Art und sogar Pflanzen verfügen über ein differenziertes nichtsprachliches Mitteilungssystem zum Austausch lebenswichtiger Informationen.
Inzwischen ist es üblich, Kunsttherapie als einen animierenden Ausdruck von Gefühlen zu verstehen. Wer-den Gefühle exponiert, teilt man sich mit. Dieser Ausdruck kann mit verschiedenen Mitteln angeregt werden. Zeichnen, Malen, Collage und Modellieren sind die dafür vorgesehenen klassischen Medien, eine Bildsprache zu initiieren. Aber nicht alles, was mit Farbe auf ein Blatt Papier geschmiert wird, ist ein Ausdruck, der sich therapeutisch nutzen lässt. Ich bin überzeugt, dass Gefühle überbewertet werden, wenn man nicht versteht, wie Gefühle entstehen. Der Ausdruck von Gefühlen mag zwar vorübergehend entlastend sein, er führt je-doch zu keiner Lösung, wenn der gefühlsbildende Hintergrund unbewusst bleibt. Dabei geht es um Sprache, um Denken, um Struktur und psychische Konfiguration. Die Kunst in der Kunsttherapie würde also darin bestehen, synaptische Konditionierungen durch bildsprachliche Prozesse umzugestalten.
Was ist unter Bildsprache zu verstehen?
Das Wort Bildsprache ist vermutlich ungewohnt. Ganz allgemein verstehe ich unter Bildsprache, dass Bilder etwas mitteilen. Ein Bild spricht, indem es aufgrund seiner Wirkung auf das Empfinden etwas sagt und es sagt etwas, indem es etwas zeigt. Die einfachste Form einer bildnerischen Mitteilung ist das gegenständlich darstellende Bild. Die dargestellten Inhalte zeigen Objekte der Realität, die etwas Erlebtes zum Ausdruck bringen. Das kann etwas sein, dem man in der Realität begegnet, dem man begegnen könnte, das man erlebt hat oder sich vorstellt, erleben zu können oder erlebt zu haben. Das Gehirn macht keinen Unterschied zwi-schen der Realität des Faktischen und der Wirklichkeit des Möglichen. Wenn man erkannt hat, dass das Wah-rscheinliche möglich, aber das Mögliche keineswegs wahrscheinlich ist, dann wird sich das auf die Abfolge der Bildaufgaben auswirken. Die Attribute der gegenständlichen Welt, die in der Kunsttherapie dargestellt werden, sind für den Klienten oder Patienten entweder ein ihm nicht bewusstes Symbol oder eine Metapher für eine von ihm erlebte Realität und repräsentieren einen Aspekt seiner seelischen und geistigen Befindlich-keit.
Gegenständliche Attribute (Objekte), die in der Kunsttherapie im Bild dargestellt werden, sind für Klientin-nen und Klienten oder PatientInnen und Patienten ein nicht bewusstes Symbol oder eine Metapher für eine von ihm erlebte Realität und repräsentieren einen Aspekt seiner psychischen und kognitiven Befindlichkeit. Die Darstellung eines Pferdes etwa ließe sich mit Wildheit, Trieb, Schnelligkeit, Zügellosigkeit und derglei-chen in Beziehung setzen. Ein Baum könnte, je nachdem, wie er aussieht, ein Hinweis für einen verkümmer-ten Gefühlszustand sein, in dem man sich vom Leben abgeschnitten fühlt oder den Wunsch nach Eigenstän-digkeit und ungestörtem bei sich Sein bedeuten. Vieles ist möglich. Die Inhalte auf Objekte bezogener Bilder können also symbolisch oder metaphorisch etwas bedeuten, was über das Dargestellte hinausreicht. Meis-tens ist im Phänomen selbst, die Bedeutung verborgen. Deshalb kann man derartige Bilder so verstehen, als würden sie eine Brücke sein, die das gegenständlich Dargestellte mit dem verbindet, was man erlebt oder erlebt hat, ohne darüber reden zu können.
Sind alle Bilder in der Kunsttherapie gegenständlich?
Bei dieser Frage muss ich etwas weiter ausholen. Was ist ein Gegenstand? Wie erlebt man einen Gegen-stand? Ein Gegenstand ist eine Form, die sich identifizieren und benennen lässt. Wir sind im Alltag von un-zähligen Gegenständen umgeben. In der Schule hat man gelernt, einen Gegenstand abzubilden. Wer das gut konnte, galt als talentiert. Dass solche Abbildungen sowohl kunstpädagogisch als auch kunsttherapeutisch wenig bedeutsam sind, ist naheliegend. Wenn es um den psychischen Ausdruck geht, kann das gegenständ-liche Zeichnen und Malen sogar ein Hindernis sein. Das ist deshalb so, weil das Darstellen, das Wollen und die Erfahrung, es nicht zu können, einen Konflikt verursachen.
Ich unterscheide vier Varianten der Bildsprache bzw. des bildnerischen Ausdrucks. Das gegenständlich natu-ralistische Bild, das gegenständlich surreale Bild, das gegenständlich abstrahierte Bild und das darstellungs-freie Bild. Das gegenständlich naturalistische Bild hat für die Kunsttherapie kaum Bedeutung. Die drei ande-ren Varianten aber schon. Wenn Kinder oder Erwachsene von irgendeinem Gefühl oder von etwas, das sie erlebt haben, ein Bild zeichnen oder malen, wird dieses Bild gegenständlich abstrahiert sein, Abstrahieren ist das Weglassen von Einzelheiten, ein Reduzieren auf das Wesentliche und das Vereinfachen des gegenständ-lich Dargestellten. Hier sind drei Beispiele für abstrahierte gegenständliche Darstellungen, wie sie für kunst-therapeutische Bilder typisch sind (Bilder 4 bis 6). Das phänomenologisch Wesentliche an abstrahierten Bil-dern ist deren immer noch erkennbare Gegenständlichkeit.
Aber anders, als in der bildenden Kunst, kommt die Abstraktion bei Kindern oder Erwachsenen unfreiwillig zustande. Das ist deshalb so, weil sie es nicht besser können. Deswegen hat man es in der Kunsttherapie überwiegend mit unfreiwillig abstrahierten gegenständlichen Ausdrucksformen zu tun. Werden solche ab-strahierten gegenständliche Motive irrational zueinander in Beziehung gesetzt, wie es für eine Arbeit mit Collagen typisch ist, ergeben sich daraus surreale Bilder, die sich sehr gut zu Traumbotschaften in Beziehung setzen lassen. Surreal bedeutet, dass die Darstellung keinen Bezug zur beobachtbaren Realität hat. Zum Beispiel wäre die Darstellung eines rosaroten Krokodils mit grünen Flügeln einerseits gegenständlich und andererseits surreal, weil es in der Realität zwar Krokodile und Flügel, aber keine rosaroten Krokodile mit grünen Flügeln gibt. Für diese Form der Darstellung gibt es unzählige Beispiele in der bildenden Kunst (Bilder 7 bis 9).
Sind Bilder, die in der Kunsttherapie gemalt werden Kunst?
Man könnte lange darüber reden, was unter Kunst zu verstehen wäre. Aber, ohne dass ich mich auf eine Defi-nition von Kunst einlasse, möchte ich sagen, nein. Deshalb ist der Begriff Kunsttherapie auch irreführend. Die Bezeichnung Ausdruckstherapie oder Gestaltungstherapie wäre angemessener. Andererseits können in der Kunsttherapie durchaus Bilder entstehen, denen man einen künstlerischen Wert zusprechen kann. Viele Bil-der der inzwischen sogenannten Outsider Art können dafür als Beispiele gelten, wie diese Bilder zeigen (Bil-der 10 bis 12). Selbst dann, wenn kunsttherapeutische Bilder künstlerisch bedeutsam sein sollten, ist das unwesentlich. Worauf es ankommt, ist der schöpferische, psychisch und kognitiv ordnende Prozess. Das Bild hat dabei lediglich die Funktion eines Hilfsmittels. Hätte der künstlerische Wert eines Bildes eine therapeu-tische Funktion, würden alle Künstlerinnen und Künstler psychisch gesunde Menschen sein.
Andererseits konnten viele Menschen erfahren, dass ihnen das Malen und Gestalten geholfen hat, einen psy-chisch belastenden Zustand zu überwinden. Von Hermann Hesse ist bekannt, dass er in der Phase einer Depression auf Anraten seines Psychoanalytikers damit begonnen hatte, Bilder zu malen. Er konnte durch das Malen kleiner Landschaften seine Depression überwinden, weil ihn das bildnerische Gestalten innerlich strukturiert und geordnet hat. Das heißt aber nicht, dass Zeichnen und Malen ein Mittel gegen Depression sein würden.
Warum wird in der Kunsttherapie überwiegend gegenständlich gemalt?
Ich denke, dass eine Kunsttherapeutin das anwendet, was sie gelernt hat. Für Klientinnen und Klienten, Pa-tientinnen oder Patienten ist das gegenständliche Malen insofern von einem gewissen Vorteil, weil er weiß, was er darstellen soll oder will. Für die Kunsttherapeutin ist das gegenständliche Bild ebenso von Vorteil, weil sie etwas sehen kann, was sie kennt. Was man kennt, kann man benennen und was man benennen kann, darüber lässt sich reden. Das ist einerseits von Vorteil, andererseits aber auch von erheblichem Nachteil, weil das, was man zu kennen meint, mitunter erheblich von dem abweicht, was der Fall ist. Beide sehen und haben zwar etwas, was ihnen bekannt ist und worüber sie reden können. Von Nachteil ist, dass kaum jemand dazu imstande ist, Inhalte seiner gegenständlichen Erfahrungswelt so darstellen zu können, dass sie dem entspre-chen, was er oder sie gesehen und erfahren hat. Wenn ein Klient oder Patient ein gegenständliches Bild zeichnet oder malt, dann versucht er andeutungsweise etwas darzustellen, was er erlebt hat. Die Metaphorik oder Symbolik des Bildes kann man dann in einem Gespräch bearbeiten.
Kann man kunsttherapeutisch arbeiten, wenn der oder die Betreffende nicht malen kann?
Das ist kein Problem, wenn man die Phänomenologie des darstellungsfreien Ausdrucks kennt. Der objekt-freie Ausdruck unterscheidet sich nämlich wesentlich vom gegenständlichen und dieser Unterschied hat nachhaltige Auswirkungen auf das Verständnis kunsttherapeutischer Prozesse und Ziele. Ich habe mich seit über fünfzig Jahren mit dem darstellungsfreien Ausdruck, in Zusammenhang mit Bewusstsein, dem Unbe-wussten und mit Suggestion beschäftigt und den therapeutischen Ansatz dieser Methode kognitive Kunst-therapie genannt.
Was genau ist darstellungsfreies oder gegenstandsloses Zeichnen?
Wenn man zeichnet, ohne dabei etwas abbilden zu wollen, werden die Formen und Farben nicht mehr dazu verwendet, um etwas darzustellen, was man in der extrazerebralen Außenwelt gesehen und erlebt hat. Des-halb ist das gegenstandsfreie Zeichnen sozusagen die Sprache der intrazerebralen Welt. Diese Innenwelt ist keine materielle, sondern eine geistige Welt. Der Unterschied zwischen dem gegenständlich darstellenden und dem darstellungsfreien Zeichnen oder Malen besteht darin, dass sich das Bewusstsein von den sichtba-ren gegenständlichen Objekten der Außenwelt auf das Wahrnehmen der nicht sichtbaren Zustände einer gegenstandsfreien Innenwelt verlagert. Anders gesagt: Das etwas ist etwas anderes als das wie.
Welche therapeutische Bedeutung hat diese Form des Zeichnens?
Nichts im Leben hat von sich aus irgendeine Bedeutung. Bedeutungen entstehen, indem man Ereignisse, Er-fahrungen, Gefühle und Gedanken zueinander und vor allem zu sich selbst, in Beziehung setzt. Darstellungs-freie Bilder haben keine Bedeutung im herkömmlichen Sinn, sondern eine Wirkung. Diese Wirkung ist das Er-gebnis visueller Attribute des Bildes, die aufgrund des Zeichnens entstehen. Die Attribute sind das Ergebnis des Verhaltens beim Zeichnens, bei dem andere Funktionen der Kognition beteiligt sind, als es beim gegen-ständlichen Zeichnen der Fall ist. Der Klient oder Patient befindet sich nämlich in einer ungewohnten Si-tuation, weil er etwas zulassen muss, was er nicht kennt und auch nicht kennen kann. Das hört sich exotischer an, als es tatsächlich ist. Diesen Zustand kann man nämlich erfahren, wenn man handschriftlich einen Text schreibt. Denn der psychomotorische Verlauf des Schreibens vollzieht sich unbewusst und wird vom bewuss-ten Ich nicht kontrolliert. Dass bedeutet auch, dass Effekte im limbischen System ohne Kontrolle durch die Hirnrindenfunktionen zum Ausdruck gebracht werden können.
Das hat metapsychische Konsequenzen. Was man vordergründig denkt und sagt, kann nämlich etwas ganz anderes sein als das, was man hintergründig denkt und will. Und was man vordergründig zu wollen meint, kann sich grundlegend von einer hintergründigen Absicht unterscheiden. Zwischen dem vordergründig Ge-dachten und dem hintergründig Gewollten kann es Unstimmigkeiten geben, die sich symptomatisch äußeren. In der Kognitiven Kunsttherapie geht es deshalb um die therapeutische Wirkung der objektfreien Aus-druckshandlung. Die Phänomenologie dieses Ausdrucks ermöglicht einen Weg zur gegenstandsfreien Innen-welt. Das begrifflich Benennbare, die Hypostasierung des sich Ereignens, tritt in den Hintergrund und der nicht benennbare Empfindungszustand rückt in den Vordergrund des wahrnehmenden Erlebens.
Beim objektfreien bzw. gegenstandslosen Zeichnen entstehen bedeutungsfreie Strukturen. Diese visuellen Strukturen werden mit Aspekten und Attributen der Außenwelt oder mit Aspekten und Attributen der In-nenwelt in Zusammenhang gebracht. Damit solche Zuschreibungen entstehen können, kommen in der kogni-tiven Kunsttherapie spezielle Methoden zur Anwendung.
Kann man das auch ohne Kunsttherapie erfahren?
Ja, auf jeden Fall. Das ist sogar sehr einfach. Dazu braucht man nur von der Voraussetzung auszugehen, dass die Handschrift der Ausdruck psychomotorischer Bewegungen ist, die den Verlauf und die Gestaltung einer Linie zu einem Schriftbild formen. Dabei kann man dann erfahren, dass die lineare Ausdrucksbewegung, die eine Handschrift bildet, kein Ausdruck gegenständlicher Vorstellungen, sondern der Ausdruck einer unbe-wussten und unterschwelligen Dynamik ist. Wenn man dann in einem zweiten Schritt, das Schreiben von den Inhalten trennt, die man schreibt, also nicht mehr darauf achtet, was man schreibt, sondern wie man schreibt, dann hat man ansatzweise das Prinzip des bedeutungsfreien Zeichnens erfahren; man hat seine Aufmerk-samkeit vom was auf das wie verlagert. Das etwas ist gegenständlich, das wie ist ungegenständlich.
Welche therapeutische Bedeutung hat das darstellungsfreie Zeichnen?
Es hat keine Bedeutung, im besten Fall hat es eine Wirkung. Man benötigt kein spezielles oder tieferes Ver-ständnis von Kunst, Psychologie oder Therapie, um jemanden darstellungsfrei zeichnen zu lassen. Diese Form des Ausdrucks verlangt vom Klienten oder Patienten keinerlei Wissen, Begabung oder Können. Weil aber beim objektfreien Zeichnen unterschwelliger Aspekte des Denkens, des Fühlens und Wollens sichtbar werden, ist ein spezielles Know-how erforderlich, um damit therapeutisch umgehen zu können. Deshalb folgt der Verlauf einer kognitiven Kunsttheapie einem Skript. Das Skript strukturiert die Abfolge der bildnerischen Aufgaben, die erforderlich sind, damit das darstellungsfreie Zeichnen zu einer therapeutischen Wirkung führt. Beim Skriptkonzept gehe ich von der Annahme aus, dass man sich grundsätzlich für oder gegen etwas zu entscheiden vermag, sofern man die dafür erforderlichen Wahlmöglichkeiten kennengelernt hat. Die Skripte der Kognitiven Kunsttherapie sorgen also dafür, dass der Klient oder Patient seine Wahlmöglichkei-ten kennenlernen und erfahren kann.
Wem hilft das?
Bei dieser Frage komme ich noch einmal auf die Definition von Dr. Derbolowsky zurück und sage deshalb, dass die Kunsttherapie jedem dabei helfen kann, zur Besinnung zu kommen. Und weil Menschen sehr verschieden sind, ist es gut, dass es unterschiedliche Formen und Ansätze von Kunsttherapie, von Sinn und Wirkung gibt. Es entspricht der Lebensrealität, dass es in allen Bereichen ausgezeichnete, weniger gute und sogar unwirk-same Mittel und Wege gibt. Im 15. Jhd. hat der Arzt, Alchemist und Mystiker Theophrastus Paracelsusus in ei-nem seiner Werke geschrieben: «Das gute Mittel wird in der Hand des Unkundigen zum Gift. Aber ein gifti-ges Mittel kann in der Hand des Kundigen ein Heilmittel sein».
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