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© Otto Hanus

Ich, Geist und Seele

Zur Phänomenologie des Psychischen


Dieser kurz gefasste Essay ist eine phänomenologische Studie zur Tiefenpsychologie von C. G. Jung und einer damit korrespondierenden psychedelischen Philosophie des Bewussten und Unbewussten. Ich beginne mit der Koexistenz von Mensch und Kunst, weil in beiden Phänomenen das Unbewusste bedeutsam zu sein scheint. Löst man diese Nominalisierung auf, erkennt man ein blindes Denken und Fühlen, ein ebenso blindes Handeln und sich Verhalten; vor allem aber würde man erkennen, dass Menschen nicht bemerken, aus wel-chen Motiven sie agieren. Daraus folgt, dass das Unbewusste nichts ist, das irgendwie und irgendwo vor-handen sein würde; es ist eine nominalisierte Sammelbezeichnung für Prozesse, Empfindungen und Zustän-den, die der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung entzogen und demzufolge nicht bewusst sind.

Man kann nicht sagen, was „Kunst“ ist. Die einzig vernünftige Definition von Kunst ist die Aussage, alles ist Kunst, was Menschen als Kunst bezeichnen. Das kann nahezu alles sein. Nur dann kann man verstehen, dass Künstler ihre eigenen Fäkalien in Konservendosen verpacken und in namhaften Galerien verkaufen können. Der italienische Künstler Piero Manzoni hat seine eigenen Exkremente in 90 Dosen zu je 30 Gramm abgefüllt und als „merda d’artista“ also als „Künstlerscheiße“ verkauft. Bei einer Kunstauktion im Hause Sothebys erzielte eine solche Dose den Preis von über 90.000 britische Pfund (Bild 1).






Bild 1

Der Mensch ist, was er zu sein meint. Man ist nicht von vornherein Mensch, weil man biologisch als Mensch existiert. Das bedeutet, dass der biologische Mensch nur die Voraussetzungen dafür mitbringt, Mensch sein zu können. Man ist also nicht bereits deshalb Mensch, weil man die Möglichkeiten dafür hat, Mensch sein zu können. Das heißt: Der Mensch ist ein Prozess der Menschwerdung, die mit der Geburt beginnt, mit dem bio-logischen Tod endet und möglicherweise sogar nach dem Sterben weitergeht (vgl. dazu den Essay Sterben und Sein). Wenn man unterstellt, es würde ein Wissen um das Wesen des Menschseins geben, dann lassen sich interessante Unterschiede erkennen. Diese Unterschiede kommen zustande, weil sich der Mensch als Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten lässt. Diese Betrachtungsweisen variieren, je nachdem, an welchem kognitiven Erfahrungsort man sich befindet, von dem aus man den Menschen betrach-tet. Vermutlich sieht ein Metzger den Menschen anders als ein Investmentbanker oder ein Pianist, ein Beam-ter vom Einwohnermeldeamt wird ein anderes Menschenbild haben als ein evangelikaler Prediger. Den Men-schen betreffend, gibt es Meinungen, Ansichten, Glaubensformen und generalisierte persönliche und kollek-tive Anschauungen.

Der Schweizer Psychiater C. G. Jung hatte seine Lehre anfangs analytische Psychologie genannt. Um 1930 hatte er sie dann als komplexe Psychologie bezeichnet. Damit wollte er sein Verständnis der menschlichen Psyche von einem biologisch neurologischen Verständnis abgrenzen, das von Sigmund Freud entwickelt wor-den war. Hinter dem Begriff komplexe Psychologie steht eine Empirie und eine theoretische Struktur, die vor allem der Ausdruck der persönlichen psychischen Erfahrungen, der Weltanschauung und Philosophie von Jung und seinen Anhängern ist. Er zweifelte daran, dass es möglich sei, seinen Ideen und Ansätzen unpartei-isch zu begegnen und meinte, dass Ideen von allgemeiner Gültigkeit kein Produkt eines Individuums sein wür-den. In diesem Sinn verstand er sich als ein Medium für Ideen von menschheitlicher Bedeutung. Er meinte, große Ideen würden zeitlos sein und etwas vermitteln, das schon immer dagewesen ist und einem mütterli-chen, einem seelischen Urgrund entstammt, der sich im und durch den Menschen vermittelt.

Einer seiner wichtigen Gedanken ist, dass sich im Subjekt eine objektive Gegebenheit der Welt zeigt. Das be-deutet, dass alles Subjektive eine Äußerung der Welt ist und deshalb auch das unwahrscheinlichste, abwegig-ste und seltsamste Aspekte einer nicht nur biologischen, sondern zugleich psychischen Lebenswirklichkeit sind. Das eine ist nicht ohne das andere. Die Psyche, besser gesagt psychische Erscheinungsformen hängen vom Körper ab und der Körper wird von psychischen Strukturen bewirkt. Das Individuelle bedeutet nichts gegenüber dem Allgemeinen und das Allgemeine bedeutet nichts gegenüber dem Individuellen.

Die Vereinigung der Gegensätze ist nach Jung ein dialektisches Verfahren. Dabei ist der Therapeut psychisch kein vom Klienten getrenntes Subjekt, sondern ist ein Miterlebender dessen individuellen Entwicklungspro-zesses. In einem interaktiven psychischen Feld sind das erkennende und erkannte Subjekt nicht voneinander getrennt, sondern bilden einer übergeordnete Ganzheit in der Einheit der Zweiheit. Das erkennende Subjekt ist wertend; es muss wertend sein. Indem es vergleichend bejaht oder verneint, bekennt es sich zu seinem seelisch-geistigen Zustandsraum, in dem es sich aktuell befindet und von dem her es sich selbst und die Welt betrachtet. Ohne Wertung wäre das Subjekt nicht erkennend. Das Werten kann bewusst und nicht bewusst sein, wobei das nicht bewusste Werten der normale Zustand ist, der ohne unser Zutun mehr oder weniger von selbst entsteht. Das qualifizierende Werten und Bewerten hat einen modellierenden Einfluss auf das psychische System des Menschen. Die Psyche oder das Psychische bildet und formt sich im Feld unbewusster Einflüsse, in denen sich ein nicht bewusstes Wollen zeigt. Dieser Wille zu Wollen wirkt sich im komplementä-ren Spannungsfeld der Phänomene von Individuum und Kollektiv, im ich und dem nicht ich der Welt, sowie in der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Geist und Materie, in den Nuancen zwischen dem Einfachen und Komplexen aus.

Das Einfache, wie das Atom, ist ohne Individualität. Die aus Atomen konfigurierten Moleküle sind jedoch in-dividuell konfiguriert. Die atomare Realität des unterschiedslos allgemeinen und nicht unterscheidbaren bildet die Voraussetzung für das Zusammengesetzte, Einzigartige und von anderem Unterscheidbare, in den Erscheinungsformen der Welt. Das individuell Gestaltete bedarf des nicht gestalteten Allgemeinen, weil es sich sonst nicht individualisieren könnte. Dieses komplementäre Prinzip betrifft nicht nur die physische, son-dern ebenso die psychische und die geistige Dimension der Welt. Das hintergründige Allgemeine ist nicht be-wusst, sondern unbewusst. Das Bewusste beginnt beim unterscheiden zwischen diesem und jenem, zwischen einem ich und dem anderen, das ich nicht bin. Bewusst ist das individuelle Subjektive erst dann, wenn sich das Individuum in seiner Eigenart von anderen Individuen unterscheiden kann. Erst der bewusste Unterschei-dungs- und Abgrenzungsvorgang macht es dem Individuum möglich, sich von der ursprünglichen Identifikati-on mit dem Allgemeinen zu lösen.

Wenn der Mensch nicht imstande ist, seine sein individuelles Subjektsein vom Allgemeinen zu unterscheiden und abzugrenzen, bedeutet das, dass dessen Individualität unbewusst und im Uterus des Allgemeinen enthal-ten ist. Dann ist kein psychisches Individuum vorhanden, sondern ein kollektiv-psychisches Atom des Be-wusstseins. Individualität ist alles, was sich vom Kollektiv unterscheiden kann und demnach nur einem zu-kommt und nicht einer Gruppe ununterscheidbarer psychischer Atome. Nicht dass der Mensch lebt, sondern wie er sein Leben gestaltend lebt, ist für die Kulturbildung von Bedeutung. Kultur ist individualisierend, wo-hingegen Naturwissenschaft generalisierend ist.

Für C. G. Jung ist die Bereitschaft der Psyche, in einer bestimmten Richtung zu denken, zu fühlen, zu agierten oder zu reagieren entscheidend. Ohne eine solche Bereitschaft gibt es keine aktive Apperzeption, ein durch den unterscheidenden Verstand bewirktes Erfassen und Einordnen von Erfahrungen in einen Sinn vermit-telnden Zusammenhang. Ein bewusst empfundenes Wahrnehmen und aktives Annehmen des sinnlich Ge-gebenen ist die Voraussetzung für die Individualisierung des Subjekts. Individualisierung ereignet und ge-staltet sich im Kontext aller im Leben erfahrenen Ereignisse, die sich metapsychisch in der Beziehung von Ich und Welt, von Allgemeinem und Besonderem auswirken. Das ist ein irrationales Phänomen, dem man rational nicht begegnen kann, weil es sich der bewussten Wahrnehmung entzieht. Das Psychische ist ein Differen-zierungsprozess, der die Entwicklung des individuellen Subjekts zum Ziel hat. Ein solcher Prozess ereignet sich im Überschreiten der Grenze zum psychisch Allgemeinen, weil die Differenzierung vom Allgemeinen und die Herausbildung des Besonderen, wobei das psychisch Besondere nicht gesucht und gewollt wird, sondern in der Anlage des Menschen psychisch begründet ist.