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 Otto Hanus


Die dreifache Bedeutung des Subjektiven


In einem gegenstandslosen Bild kommen drei Dimensionen des zerebralen Es zum Ausdruck. Das heißt: Ohne die physische Dimension des Gehirns wird nichts Geistiges sichtbar. Aber ohne die psychische Dimension wird in einem gegenstandslosen Bild auch nichts Geistiges zum Ausdruck kommen. Gleichwohl geht man in paradigmatischer Korrektheit davon aus, dass sich psychische und geistige Phänomene vom Physischen herleiten lassen würden. Die Architektur und Funktionsweise der physischen Dimension sind intersubjektiv und das bedeutet, dass sie bei allen Menschen gleich ist, sofern sie nicht deformiert oder funktional gestört ist. Das intersubjektive zerebrale Es hat sich ein intrazerebrales System geschaffen, mit dem es die gegenstandslosen Impulse seiner neuronalen Netzwerke integrierend und modellierend zu wahr-nehmbaren gegenständlichen Gestalten verarbeitet. Kultur- und sprachbedingt wird dieses intrazerebrale System als „Ich“ bezeichnet. In diesem Sinn ist das Ich erleben eine intersubjektive, also eine allen Menschen mögliche Erfahrung, und zwar unabhängig davon, wie sich die Person als ich wahrnimmt und erlebt. 


Das intrazerebrale Ich entfaltet und verwirklicht das ihm Mögliche, indem es auf die Impulse des zerebralen Es aufgrund von Unterscheiden und Entscheiden selektierend und gestaltend Einfluss nimmt. Das Ich kann, wollen, weil das zerebrale Es will. Das heißt: nicht die physische Dimension des Gehirns will, sondern die triadische Ganzheit der physischen, psychischen und geistigen Dimension ist ein wollendes System. Diese Tendenz, sich für oder gegen etwas entscheiden zu können, das dem intrazerebralen Ich bewusst oder nicht bewusst sein kann, modelliert einen subjektiven zerebralen Zustand, eine Disposition, die bewirkt, dass sich die Menschen voneinander unterscheiden. 


Betrachten wir diesen Zusammenhang am Beispiel des gegenstandslosen Zeichnens. Drei Personen haben die Aufgabe bekommen, ihren aktuell empfundenen Zustand mit Farbkreiden gegenstandsfrei zum Ausdruck zu bringen (Bilder 1 bis 4). Wie man sehen kann, sind drei Zeichnungen entstanden, die sich aufgrund ihrer Subjektivität des Selbsterlebens und des Ausdrucks deutlich voneinander unterscheiden. Zugleich sind diese drei Bilder aber auch intersubjektiv. Sie zeigen nämlich, dass jeder an der Aufgabe Beteiligte dem Prinzip nach imstande war, ein Bild zu zeichnen. Diese Fähigkeit des intrazerebralen Ich, einen Zustand des Selbster-lebens gegenstandslos zeichnen und äußern zu können, ist eine intersubjektive, eine allen Menschen mög-liche zerebrale Voraussetzung für subjektive Ausdruckshandlungen. 











Jedes dieser drei Bilder ist das Ergebnis einer Beziehung zwischen physischen Voraussetzungen, psychischer Ursachen und geistiger Attribute. Sie zeigen sich in Form charakteristischer Eigenschaften, gegenstandsloser Farben, bedeutungsfreier Formen und deren Beziehungen zueinander im zweidimensionalen Handlungs-raum. Die physischen Voraussetzungen von Körper, Gehirn und Malmaterial entsprechen dem Realen; die psychischen Ursachen des subjektiven Empfindens, das subjektiv gewollte Handeln, und die geistige Dyna-mik der Gestaltbildung sind Ausdruck einer intrazerebralen Wirklichkeit. Die physischen Phänomene sind objektiv und real, die psychischen Ursachen sind sowohl subjektiv als auch intersubjektiv und das Geistige ebenso. 


Ein gegenstandsloses Bild kann über das Objektive, Subjektive und Intersubjektive hinaus auch eine trans-subjektive Wirklichkeit des zerebralen Es vermitteln. Aber ebenso wie nicht jedes Abendessen einer katholi-schen Familie einem christlichen Abendmahl entspricht, ist auch ein gegenstandsloses Bild nicht von vornhe-rein das Medium für eine höher strukturierte und dem Intersubjektiven übergeordneten, geistigen Dimensi-on. Ich habe bereits angedeutet, dass man zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden muss, weil Wirklichkeit und Realität zwei völlig unterschiedliche Phänomene sind, auch wenn diese beiden Begriffe um-gangssprachlich homolog verwendet und gleichsinnig verstanden werden. Die Voraussetzung für das Er-kennen der Realität ist die Verarbeitung extrazerebraler Sinnesimpulse durch die physische Dimension des zerebralen Es, also des Gehirns. 


Die Voraussetzung für das Erkennen der Wirklichkeit ist die Verarbeitung intrazerebraler Interdependenzen der physischen, psychischen und der geistigen Dimension des zerebralen Es (Bild 5) und ein damit verbun-denes Wahrnehmen. Dass vom zerebralen Es intrazerebrale Effekte verarbeitet werden, ist nichts Beson-ders, weil es dauernd geschieht, zum Beispiel beim Träumen, in aktiven Imaginationen oder wenn man über etwas nachdenkt. Das betrifft selbstverständlich auch das gegenstandslose Zeichnen, in dessen Ausdrucks-handlungen sich eine intrazerebrale Wirklichkeit, jedoch keine Realität äußert. In den drei Bildbeispielen von vorhin sind die sichtbaren Bewegungsspuren etwas physisch Reales, die Qualität der Zeichnungen, die Wir-kungen ihrer Gestalt auf das Empfinden sind jedoch nicht real, dennoch aber psychisch und geistig wirklich. 


Es ist leicht einzusehen, dass ein intrazerebrales Ich ein subjektives Erleben ermöglicht und die Tatsache sub-jektiv erleben zu können intersubjektiv ist, weil das auf alle Menschen zutrifft. Keinesfalls intersubjektiv sind jedoch die subjektiven Phänomene des Erlebten, des Gedachten und Gefühlten. In jedem Fall ist aber das subjektive Empfinden und Erleben, die Voraussetzung für das Wahrnehmen des Geistigen in gegenstands-losen Bildern und darüber hinaus der gegenstandslosen Welt. Dass den gegenständlichen Phänomenen der Welt gegenstandslose Prozesse zugrunde liegen, lässt sich je, nachdem ähnlich schwer oder leicht verstehen wie der gegenstandslose Aspekt einer objektfreien Collage. Beide erscheinen in Form von Beziehungen. In einer Collage (Bild 5) zeigen sich die Beziehungen darin, wie zwei oder mehrere Bildelemente aufeinander bezogen sind und eine kohärente Bildgestalt bilden. In einem gegenständlich surrealen Bild (Bild 6) kommen die Beziehungen in einer Verortung der Objekte im Raum zum Ausdruck. In der Lebenswelt zeigen sich die Beziehungen etwa darin, wie sich Moleküle sinnvoll aufeinander beziehen und Organismen bilden (Bild 7). Jedes Lebewesen ist in seiner Ganzheit ebenso wie ein Bild, Ausdruck verwirklichter Beziehungen.











Grundsätzlich ist jedes Phänomen aufgrund der Beziehungen seiner Elemente ein geistiger Ausdruck. Wenn das so ist, worin bestehen aber dann die offensichtlichen Unterschiede abgesehen davon, dass sich etwa diese beiden Zeichnungen voneinander dadurch unterscheiden, weil sie anders aussehen (Bild 8 und 9)




















Beiden Zeichnungen liegen unterschiedliche Ausdruckshandlungen zugrunde, die beim Sehen zu psychi-schen und geistigen Wirkungen werden. Denn nichts ist ohne Wirkung, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. In den gegenstandslosen Beziehungen der physisch sichtbaren Attribute und dem relativen aufeinan-der Bezogen-Sein im Kontext der Einheit des Bildganzen, haben sich nicht sichtbare psychische und geistige Empfindungen, im physisch Sichtbaren verwirklicht.


Es ist kein Zufall, sondern lässt eine Koinzidenz vermuten, wenn der Verzicht auf das gegenständliche Abbil-den durch Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky und vor ihnen ansatzweise durch Hilma af Klint, mit der Ent-deckung nichtlokaler Elektronen und gequantelter Strukturen durch Max Planck zusammenhängt, wodurch das Festhalten an einem Denken, in gegenständlich verfestigten Vorstellungen, einer mechanisierten materiellen Welt, an seine Grenzen gekommen war. Die Annahme einer ausschließlich materiellen Realität, von der man meinte, alles herleiten zu können, wurde zugunsten metamaterieller Felder mehr oder weniger widerwillig infrage gestellt. Es hatte sich gezeigt – man sollte vielleicht besser sagen, es hätte sich zeigen können, dass sich das Universum nicht zufällig von null zu etwas entwickelt, sondern sich aufgrund einer akausalen Proportion Gestalt bildend konfiguriert.


Bei gegenstandslosen Bildern ist es ähnlich, was bedeutet, dass man die visuelle Grammatik des objektfreien Ausdrucks, die sich, ähnlich wie die Symbole in einer mathematischen Gleichung, in den Beziehungen der Bildelemente zeigt, verstehen muss. Es gibt zweierlei Verstehen. Eine mathematische Gleichung lässt sich anhand ihrer logischen Regeln lesen und verstehen. Ein gegenstandsloses Bild benötigt ein bewusstes Empfinden beim Wahrnehmen der relationalen Beziehungen der visuellen Attribute. Man muss also das Beziehungsmuster der gegenstandslosen Konfiguration, ähnlich wie die Symbole einer Gleichung, in ihrem Zusammenhang sehen, um «verstehen» zu können. 


Die Wahrnehmungen einer Person, die ein gegenstandsloses Bild betrachtet, sind subjektiv. Das bedeutet, dass sie ausschließlich für die betreffende Person relevant sind. Intersubjektiv und somit verallgemeinert subjektiv, ist jedoch die Möglichkeit, dass Personen ein Bild betrachten sind subjektiv darauf reagieren können. Die, dem Menschen gegebene Möglichkeit, auf ein Bild reagieren zu können, gleichgültig wie, ist ein objektiv subjektives Phänomen. Das Transsubjektive würde sich vom Subjektiven und Intersubjektiven da-durch unterscheiden, dass sich im subjektiven Wahrnehmen, welches intersubjektiv gegeben ist, Phänomene erfahren und erkannt werden können, deren geistige Struktur sich in der Interaktion mit einem wahrneh-menden Subjekt verwirklicht. Ein mathematischer Satz bedarf des Subjekts, das diesen Satz formuliert. Dessen Aussage würde untersubjektiv sein, weil jedes daran interessierte Subjekt, den Satz lesen und nach-vollziehen kann. Sollte damit eine allgemeingültige Aussage formuliert und erkannt worden sein, wäre sie transsubjektiv in dem Sinne, weil sich eine vom Subjekt unabhängig gedachte Erkenntnis über das denken-de Subjekt offenbart hat. Ich zitiere noch einmal Carl Friedrich von Weizsäcker: „Es gibt eine Rationalität des Irrationalen, genauer gesagt eine Vernunft der Affekte, in der sich Subjektives, gerade in seiner Subjektivität, als objektiv, als Erkenntnis erweist.“ Ich möchte diese großartige Einsicht modifizieren und damit das transsubjektive Phänomen definieren: Etwas Subjektives kann im gegenstandslosen Bild infolge seiner Sub-jektivität objektiv zum Ausdruck kommen und in der Anschauung eine Einsicht vermitteln, die über das Subjektive und Inter-subjektive hinausreicht. In einer anderen Betrachtungsweise würde man sagen können, wenn etwas nicht subjektives Geistiges in die Welt der Erscheinungen hineinreicht, entspräche diese Wirk-lichkeit des Intersubjektiven einer objektiven Realität.


Ich fasse zusammen. Es gibt gegenstandsfreie Bilder. In einem gegenstandslosen bzw. darstellungsfreien Bild haben sich Effekte des zerebralen Es zum Ausdruck gebracht. Dieser Ausdrucksmöglichkeit liegt ein intraze-rebrales Ich zugrunde, das wollen, unterscheiden und entscheiden kann. Als Phänomen ist ein gegenstands-freies Bild ein objektfreier Aspekt der Welt, sodass man sagen kann, dass die Phänomene der Welt Wirkun-gen gegenstandslose Beziehungen sind. Das zerebrale Es modelliert die gegenstandslosen Beziehungen der Sinnesimpulse zu gegenständlichen Erfahrungen. Der Modellierung liegen Einflüsse der physischen, der psy-chischen und der geistigen Dimension zugrunde. 

Bilder 1 bis 4

Bild 5

Bild 6

Bild 7

Bild 8

Bild 9